Weshalb tauchen reifere Menschen noch einmal in eine Fremdsprache ein und quälen sich mit Grammatik, wenn weder berufliche noch sonstige Veranlassung besteht? Eine Französisch-intensivschule an der Côte d’Azur bietet enthusiastisches Anschauungsmaterial.
Auch wenn keine Schulglocke schrillt und erst recht keine Absenzen kontrolliert werden, die Disziplin unter dem südfranzösischen Himmel ist eisern. Pünktlich um 9 Uhr sitzen in Villefranche-surMer, unweit von Nizza, die lernhungrigen Schulrückkehrer in ihren Kleinklassen. Sie hängen an den Lippen ihrer Lehrerinnen und Lehrer, um möglichst keine Silbe von dem zu verpassen, was da in der köstlichsten aller Sprachen erklärt wird. Unverdaut noch die Brot- und Französischbrocken vom Frühstück mit Leuten unterschiedlichster Nationen, und auch die morgendlichen Fernsehnachrichten kämpfen noch um Einlass in die linke Gehirnhälfte. Klingt nach Mutterschülerinternat? Irrtum, das ist ein normaler Tag im vierwöchigen Französisch-Intensivkurs für Erwachsene. Das heisst achteinhalb Stunden Unterricht täglich, Mittagessen eingerechnet, das mit einer Lehrperson am Tisch eingenommen wird. Klar, dass die Conversation weitergeht, mündlicher Unterricht zwischen Gratin und Tarte Tatin. Eine Tortur? Sie wollen es ja nicht anders, nein, Französischlernen ist ihre Leidenschaft.
Débutant und Intermédiaire
Zum Beispiel Hans (64) und Irmgard Tauer (63) Ehepaar aus dem süddeutschen Rastatt, er war früher Ingenieur, sie Steuerprüferin. Als das Berufsleben mit der Frühpensionierung zu Ende ging, haben sie noch einmal ganz von vorne angefangen. Hans und Irmgard haben diese Entscheidung bewusst und radikal getroffen. Mit der Arbeit, die wegfiel, gingen die Warnlichter an und signalisierten Neuorientierung. Sie zogen also aus dem Norden Deutschlands nach Rastatt bei Baden-Baden. Was in den Berufsjahren zu kurz gekommen war, bekam nun seinen Platz : Konzerte, bildende Kultur und Sport. “ Man muss auch was tun für die geistige Fitness”, ist Hans Tauers Überzeugung. Also standen auch Kurse an der Volkshochschule auf dem Programm, zum Beispiel Französisch – von null auf, wohlgemerkt. Bald schon reichte das dem aktiven Ehepaar nicht mehr. Irmgard entdeckte einen Prospekt des Instituts in Villefranche, war begeistert von den schönen Umgebung und nahm die Sache in die Hand. “Ich sagte zu Hans : Schau mal, da gehen wir hin!” Nun lernt sie motiviert bei den Intermédiaires, Hans ist bei den Débutants eingeteilt – kein Wunder, meint Irmgard: “Während des Kurses in Deutschland hat er sich erfolgreich gedrückt, wenns ums Sprechen ging, hier aber zählt nur das Mündliche.” Hat Hans keine Mühe damit, dass er als Anfänger weniger gut als seine Frau eingestuft worden ist? “ Ach nein, meine Fortschritt merkt man dafür viel besser”. Das bestätigt auch Irmgard. Nach dem Unterricht wechseln die beiden nicht etwa gleich auf Deutsch, sondern man spricht weiter Französisch – nicht den ganzen Abend, aber immerhin. “Wir wollen hier etwas lernen, nicht einfach die Zeit absitzen”, meint Hans. Die Tage seien anstrengend, und man müsse auch seine Grenzen akzeptieren. “ Bis zwei Uhr morgens in den Ausgang, damit ist natürlich in unserem Alter Schluss.”
An der Kraftquelle
Geschafft ist auch Goril Stromholm (70), wenn sie um 17 Uhr das Institut verlässt. “Man muss ehrlich sein, es ist ganz schön ermüdend, aber gleichzeitig fühle ich mich in der französischen Ambiance an meiner Kraftquelle.” Goril Stromholm lebt in Oslo, ist Journalistin im Ruhestand und hatte schon immer eine besondere Vorliebe für die französische Kultur und Sprache. In den fünfziger Jahren, im Alter von 22, reiste sie das erste Mal nach Frankreich, nach Paris, um dort bei einer Familie als Au-Pair zu arbeiten. Als sie zwei Jahre später nach Norwegen zurückkehrte, hatte sie längst Feuer gefangen. Auf kleiner Flamme köchelte das Französisch im kühlen Norden weiter. Drei Jahre darauf bekam sie ein Stipendium, um in Paris zwei Semester Journalismus zu studieren. Alls sie dann für das “Arbeiderbladet”, die norwegische Arbeiterzeitung, als Ausland-Korrespondentin arbeiten konnte, packte sie ihre Chance und kehrte erst 1967 nach insgesamt fünf Jahren in die Heimat zurück. Dort stieg sie voll in den Beruf ein, arbeitete beim Radio und bei der Zeitung, wurde Mutter, und Frankreich rückte in den Hintergrund. Als ihr einer Freundin erzählte, dass sie einen Französich-Intensivkurs an der Côte d’Azur machen wolle, war die Glut wieder entfacht und Goril sofort mit von der Partie. Und sie ist begeistert : Auch wenn sie einiges von dem vergessen hat, was sie einmal beherrschte, und sich gebührend über ihre Fehler ärgert, fühlt sie sich in der Klasse mit dem höchsten Sprachniveau sehr wohl und geniesst auch die internationale Zusammensetzung von Leuten aus den USA, Kanada, Trinidad, England oder der Schweiz. “Die vier Wochen hier erweitern mir den Horizont. Die Sprache und die Kultur hier inspirieren meinen Geist; nach einer gewissen Zeit brauche ich diese Umgebung einfach wieder.”
Die Klassen – ein Potpourri
Pädagogischer Leiter Frédéric Latty sieht bei den über 50-Jährigen zwei Motive, Französisch zu lernen: “Kann man berufliche Beweggründe ausschliessen, ist es meistens die Ferienwohnung oder der neue Wohnsitz in Frankreich oder dann der Wunsch, noch einmal etwas anderes zu machen, was den Ausschlag gibt.” Die Schule, die das ganze Jahr Kurse für 21 – bis 75-Jährige anbietet, ist in den Sommermonaten mit maximal 80 Studenten schnell ausgebucht: Das Badewetter und die unmittelbare Meernähe locken von Juli bis September vor allem die 20- bis 45-Jährigen an. Die reiferen Semester ziehen die Wintermonate an der Côte d’Azur vor, dann machen die über 60-Jährigen bis zu einen Viertel aller Schüler aus. So ändert sich zwar übers Jahr die zahlenmässige Zusammensetzung von Jung und Alt, gut durchmischt sind die Klassen, aber immer, was Alter, Nationalität oder Motivation anbelangt. Das schätzen nicht nur die Schülerinnen und Schüler , sondern auch die Lehrpersonen , die auf der einen Seite Wissen vermitteln, auf der anderen von den unterschiedlichen Lebenserfahrungen ihrer Studenten immer wieder Neues dazulernen. Was hält man eigentlich an der Schule von den Schweizerinnen und Schweizern, die hier zum Stammpublikum zählen? Frédéric Latty lächelt : “Noch vor etwa zehn Jahren galten die Schweizer hier als steif und eher engstirnig. Das hat sich aber in letzter Zeit geändert, inzwischen gehören sie zu den Lieblingen der Lehrer.” Festfreudig, fröhlich und offen nehme man uns hier wahr – tant mieux !
Neustart
Einer dieser Lieblinge ist Oskar Zumstein, Witschaftsinformatiker aus Giswil. Er bezeichnet sich selbst als typischen Schweizer : mit dem Leben zufrieden, verheiratet, zwei Kinder, beruflich etabliert, in der Gemeinde engagiert aber mit der Frage im Nacken : Und jetzt soll das immer genau so weiter gehen? Angesichtes des 50. Geburtstags, der näher rückte, war seine Antwort : ” Nein, ich will etwas Neues wagen, etwas tun, was gar nicht in mein Lebenskonzept passt.” Oskar Zumstein haderte damit, dass er sich vor allem beruflich sehr mit rationalen Aspekten beschäftigte und die Seiten des Lebens, die mehr mit Emotionen verbunden sind, an ihm vorbeizogen. Sogar in den sozialen Bereichen, in denen er sich einsetzte – ob im Altersheim oder bei der Jugendförderung -, fand er sich schliesslich in der Administration oder bei den Finanzen wieder. “Es war ein Schnitt fällig , ich wollte mich verändern.” Er gab alle Ämter und Kommissionen ab und begann sich umzuschauen. Zufällig traf er seinen Französichlehrer von damals wieder, und man plauderte über alte Zeiten. Mündlich war er im Französischunterricht nicht schlecht gewesen. Aber seither? Er hatte kaum Kontakt mit der zweithäufigsten Schweizer Landessprache gehabt. Er lies sich im Sprachreisebüro beraten und landete in Villefranche-sur-mer. Und er bereut es keinen Augenblick. Vier Wochen Französisch-Drill haben ihn zwar nicht zum Sprachexperten gemacht : “Das war auch nicht das Ziel. Im Leben ist genug auf Perfektion ausgerichtet.”Viel wichtiger ist ihm, dass er sich vom Alltag lösen, sich mit ganz anderen Menschen austauschen, in andere Leben hineinblicken konnte. “Ich habe etwas für mich gemacht, und das hat mir viel gebracht.”
Wie heisst es doch: Nicht für die (Sprach-) Schule, fürs Leben lernen wir.
